Advanced Passenger Train – Neigetechnik-Superzug in Großbritannien

Advanced Passenger Train Prototyp in Crewe – 11/2006 © Wikipedia: PD-USER-W (gemeinfrei)

Advanced Passenger Train Prototyp in Crewe – 11/2006 © Wikipedia: PD-USER-W (gemeinfrei)

Der Advanced Passenger Train in der Übersicht

Im Großbritannien gab es in den Siebzigerjahren erste Ansätze für einen Hochgeschwindigkeitsverkehr. Angespornt durch das Shinkansen-Vorbild in Japan und dem 200 km/h-Betrieb im restlichen Europa plante die British Rail einen Superzug mit Gasturbinenantrieb und Neigetechnik. Ziel war es, den Zug auf herkömmlichen Strecken um etwa 50 Prozent schneller fahren zu lassen, ohne die Gleise und Oberleitung verändern zu müssen. Bis 1972 wurde der vierteilige Advanced Passenger Train Experimental (APT-E) hergestellt. Bei Versuchsfahrten stellte er mit 245 km/h einen britischen Rekord auf. Wegen der hohen Treibstoffkosten entschied man sich nun für einen elektrischen Antrieb. British Rail ließ daraufhin drei Advanced Passenger Train Prototypen (APT-P) konstruieren. Ende 1979 erreichte eine achtteilige Garnitur bei Testfahrten 257 km/h. Am 7. Dezember 1981 startete der kommerzielle Verkehr mit 14-teiligen APT-P-Zügen auf der elektrifizieren West Coast Main Line. Einige technische Probleme und viel Pech beendeten bereits nach drei Tagen (!) im kommerziellen Betrieb die Ära des APT. Bis 1986 fanden nur noch Testfahrten statt, bevor die Züge endgültig aufs Abstellgleis rollten.

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Die Bahn in Großbritannien nach dem Zweiten Weltkrieg

Deltic-Lok Class 55 © 16.05.2015 Wikipedia-Autor The Basingstoker (CC BY-SA 2.0)
Deltic-Lok Class 55 © 16.05.2015 Wikipedia-Autor The Basingstoker (CC BY-SA 2.0)

In der Nachkriegszeit der Fünfzigerjahre wurde die Eisenbahn in Großbritannien kaputtgespart. Die Infrastruktur konnte nur notdürftig geflickt werden, die Fahrzeuge waren hoffnungslos veraltet.[1] Die Ostküstenstrecke (East Coast Main Line) von London nach Edinburgh und die Westküstenstrecke (West Coast Main Line) von London nach Glasgow zählten schon damals zu die wichtigsten Bahnverbindungen in Großbritannien. Beide Trassen zu elektrifizieren war aber zu teuer, sodass nur entlang der kurvenreichen West Coast Main Line bis 1967 größtenteils eine Oberleitung installiert werden konnte. Auf der East Coast Main Line setzte die British Rail dagegen ab 1962 sehr leistungsfähige, bis zu 177 km/h schnelle „Deltic“-Diesellokomotiven ein. Sie zogen unter anderem den „Flying Scotsman“. Einen weiteren Geschwindigkeitsschub brachte die Modernisierung und teilweise Begradigung der Ostküstenstrecke.[2] Auf der West Coast Main Line zogen Elektrolokomotiven der Class 86 die schnellsten Personenzüge mit bis zu 177 km/h (110 mph).[3] Um die Durchschnittsgeschwindigkeiten auf beiden Hauptlinien aber deutlich anzuheben, war die Entwicklung eines völlig neuen Triebzuges nötig. Dieser sollte auf dem Bestandsnetz um bis zu 50 Prozent schneller vorankommen können als herkömmliche Züge.[4]

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Wichtige Hauptstrecken in England, Schottland und Wales

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Der Advanced Passenger Train Experimental (APT-E)

APT-E: Advanced Passenger Train Experimental – © 31.05.2004 FreeFoto.com
APT-E: Advanced Passenger Train Experimental – © 31.05.2004 FreeFoto.com

Im Sommer 1969 schloss die britische Eisenbahngesellschaft Verträge zur Herstellung eines Experimentalzuges ab. Die Forschungsabteilung in Derby baute eine Entwicklungswerkstatt und eine stillgelegte Strecke wurde auf einer Länge von 21 km für Hochgeschwindigkeitstests präpariert.[3] Mit Hilfe von Rohbau-Wagenkästen untersuchten die Ingenieure die Federungs- und Neigetechnik. Danach baute man schließlich den vierteiligen Zug, bestehend aus zwei Triebköpfen und zwei Mittelwagen. Alle vier Wagen konnten sich um neun Grad neigen. Vier 400 PS starke Leyland-Gasturbinen versorgten die direkt auf den Achsen sitzenden Gleichstrommotoren mit Strom. Die fünfte Turbine in jedem Triebkopf lieferte dem Zug und seinen Instrumenten den Strom. In diesem Zug steckte auch erstmals eine völlig neue Technik. Für die Neigetechnik war eine hochgezüchtete Elektronik erforderlich. Es wurde zudem eine komplett neue Bremse entworfen, die als hydrokinetische Bremse bezeichnet wird. Im Turbinenrad dreht sich eine hohl ausgeführte Achse, die in einer Kammer mit Flüssigkeit umgeben ist. Die Flüssigkeit konnte hohe Energien aufnehmen, die zu einem Kühlsystem transportiert wurde. Somit war der APT-E(xperimental) in der Lage genauso schnell aus 250 km/h zum Stehen zu kommen wie ein herkömmlicher Zug aus 160 km/h. Am 25. Juli 1972 sollte der erste Planeinsatz erfolgen, doch der Zug wurde, wie die übrigen auch, ein Jahr lang bestreikt. Am 10. August stellte der APT-E einen neuen Rekord mit 245 Stundenkilometern auf. Ein Jahr später stellte die British Rail den Zug ins Eisenbahnmuseum von York, wo er sich noch immer befindet.[5]

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Drei Advanced Passenger Train Prototypen (APT-P)

Herstellung und Technik der APT-P-Züge

Nachdem sich herausgestellt hatte, dass der Treibstoffverbrauch der Gasturbinen ziemlich hoch gewesen war, wollte die British Rail auf Elektrotraktion umstellen. Ein APT-Prototyp wurde von der britischen Regierung genehmigt. Die elektrische Einrichtung bestellte British Rail in Schweden. Einsatzgebiet des Zuges sollte die Strecke London – Manchester sein, jedoch musste auch Schottland angeschlossen werden. So einigte man sich für den Einsatz auf der Strecke London – Glasgow. 1977 sollten sogar vier 14-teilige Prototypen mit einer Durchschnittsgeschwindigkeit von 162 km/h den Regelbetrieb aufnehmen. Vor dem Bau des Zuges wurden Tests mit der Neigetechnik durchgeführt, die so gut wie gar nichts mit der des Gasturbinen-APTs zu tun hatte. Die BR zog für diese Tests einen schmalen Waggon heran, der auch im geneigten Zustand nicht den Verkehr auf dem Nachbargleis behinderte.

Der APT-P setzte sich aus zwei antriebslosen Steuerwagen an den Enden des Zuges, zehn Mittelwagen und zwei Triebwagen in der Mitte des Zuges zusammen. Die beiden Triebwagen durften nicht von den Fahrgästen durchquert werden, da sich dort die Antriebs- und Steuerungseinheit befand. Der Nachteil: Durch die Barriere in der Mitte des Zuges muss das Personal doppelt vorhanden sein; damit verdoppelten sich auch die Lohnkosten. Wieso akzeptierte man eine derart ungewöhnliche und weltweit einmalige Aufteilung? Der Einsatz von nur einem Triebkopf wäre für die 13 Mittelwagen zu schwach gewesen, da die Strecke starke Steigungen aufweist. Zwei Triebköpfe (im Prinzip zwei Lokomotiven) an nur einem Ende des Zuges einzusetzen, bewirkt beim Schiebebetrieb hohe Knickkräfte. Die übliche Anordnung von einem Triebkopf am Anfang des Zuges und einem am Ende – so wie beim ICE 1 und TGV – kam auch nicht infrage. Durch unüberlegte Sparmaßnahmen musste die Oberleitung einfach gehalten werden. Bei Schnellfahrten wäre vom führenden Stromabnehmer aus der Fahrdraht zu stark zum Schwingen angeregt worden – der hintere Pantograph hätte nur einen schlechten Kontakt zur Oberleitung gehabt. In Deutschland oder Frankreich ist die Qualität der Fahrleitung höher, sodass dort das Triebkopf-Prinzip ohne Probleme durchführbar ist. Eine weitere Möglichkeit wäre gewesen, eine Hochspannungsleitung von einem Triebkopf zum anderen über die Länge des ganzen Zuges zu legen, damit der eine Stromabnehmer den anderen Motorwagen mit Strom versorgen kann. Doch das Konzept war angeblich wegen der Neigetechnik nicht möglich. Es blieb also dabei, die Motorwagen in der Zugmitte einzugliedern.

Der Stromabnehmer wurde auf einem, mit dem Drehgestell verbundenen Rahmen montiert. Dadurch blieb der Stromabnehmer immer parallel zum Gleis. Ein Linienzugbeeinflussungssystem wie in Deutschland gab es bei der British Rail nicht. Das hatte zur Folge, dass die zulässige Höchstgeschwindigkeit von 250 km/h auf 200 km/h gedrosselt werden musste. Immerhin waren entlang der Gleise passive Überwachungssysteme angebracht, um im Führerstand die höchstmögliche Geschwindigkeit in den Kurven anzeigen lassen zu können.

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Versuchsfahrten mit den APT-P-Garnituren

Als nach 44 Arbeitskämpfen, Verzögerungen in der Produktion und geringer Erfahrung mit Alu-Schweißtechniken endlich ein APT-P-Zug einsatzbereit war, rückte schon das Jahr 1980 heran. An Weihnachten 1979 erzielte der Versuchszug mit 250 km/h einen neuen Rekord. Kurze Zeit später waren es sogar 257 km/h. Bei den Prototypen traten auf den Gebirgsabschnitten Haftungsprobleme auf. Bei einer Präsentation für die Öffentlichkeit stand eine zehnteilige Garnitur zur Verfügung. Sechs Wagen waren für die Reisenden zugänglich, die anderen beiden Wagen füllten die Bordtechniker. Die restlichen zwei Wagen waren die Antriebseinheit. Erst Anfang 1980 kam eine dritte Garnitur aus den Produktionshallen, die, laut Fahrplan, im Mai 1980 den Regelbetrieb aufnehmen sollte. Am 18. Mai entgleiste ein APT-P-Zug mit dem Vizepräsidenten der BR an Bord. Die Unfallursache waren zwei Bolzen in der hydrokinetischen Bremse, die falsch befestigt waren. Der Zug trug keinen nennenswerten Schaden davon. Nach der Panne sollten die Züge am 6. Oktober den Regelbetrieb aufnehmen; am 3. Oktober fand eine Pressefahrt mit 200 km/h statt. Aber wieder gab es Probleme mit der Neigetechnik, den Reibungsbremsen und anderen Teilen. Wieder wurde die Premierenfahrt verschoben. Mittlerweile feierte die französische Bahngesellschaft SNCF den TGV-PSE.

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Nur drei Tage Fahrgastbetrieb mit dem APT-P

Der erfolgreiche Start in Frankreich war Grund genug, am 7. Dezember 1981 den kommerziellen Betrieb aufzunehmen. Am Montag Morgen um 7 Uhr startete der APT in Glasgow. Neben Übelkeitsgefühlen durch die Neigetechnik und einem recht unruhigen Lauf verlief die Fahrt sehr gut – mit 222 km/h Spitzengeschwindigkeit. Nach 4 Stunden 14 Minuten Fahrt erreichte der Zug London. Allerdings gab es bei der Rückfahrt einen scheinbaren Fehler in der Neigetechnik: ein Kontrollmessgerät hatte zu hohe Seitenbeschleunigungen registriert, als der Zug eine Kurve zu schnell durchfuhr. Die Folge war, dass sich sechs Wagen ruckartig aufrichteten. Obwohl die Neigetechnik funktionierte, litt dadurch das Image des Zuges. Zudem gingen beim Aufrichten der Wagen große Mengen an Glas und Geschirr kaputt. Am übernächsten Tag blockierte Eis die Druckluftleitungen, sodass die Fahrt abgebrochen werden musste. Der dritte Tag im Planverkehr sorgte schließlich für das Aus der APT-Ära. Heftiger Schneefall brachte den Verkehr zum Erliegen – der APT endete in Crewe. Zwar kam es noch bis zum Juni 1986 zu einigen Versuchsfahrten, um Komponenten für eine neue Lok auszutesten, aber dann wanderten die drei APTs aufs Abstellgleis. Heute kann man noch einige Wagen in verschiedenen Museen in England besichtigen.

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Das Projekt „Advanced Passenger Train“ wurde beendet

Einen direkten Nachfolger des APT gab es nicht. In diesem Zug steckten zu viele technische Neuerungen auf einmal drin. Außerdem waren Missmanagement, minderwertige technische Arbeit, mangelhafte Öffentlichkeitsarbeit, schlechte Beziehungen zwischen British Rail und den Gewerkschaften und viel Pech am schnellen Tod des Superzuges schuld. Es ist wirklich schade, dass es bis zum Eurostar in England keinen Hochgeschwindigkeitszug in dieser Form mehr gab. Selbst beim Eurostar ist die Verwandtschaft zum französischen TGV zu sehen und keine rein britische Entwicklung war. Doch führte die British Rail noch während der APT-Einsätze einen weit erfolgreicheren Zug für Großbritannien ein: den HST.

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Weblinks zum Advanced Passenger Train

Technische Daten: APT-E
Zug- / Baureihenbezeichnung:Advanced Passenger Train Experimental
Einsatzland:England
Anzahl der Züge:1 Zug
Zugtyp:Triebzug
Anzahl der Triebköpfe:2 Triebköpfe
Anzahl der Mittelwagen:2 Mittelwagen
Baujahre:1969–1972
Spurweite:1435 mm
Stromsystem(e):Gasturbinen speisen elektrische Gleichstrommotoren
Höchstgeschwindigkeit bei Versuchsfahrten:245 km/h
Technisch zugelassene Höchstgeschwindigkeit:250 km/h
Antriebsleistung des Zuges:2.400 kW ( 8 x 300 kW )
Bremssysteme:Hydrokinetische Bremse im Turbinenrad
Jakobsdrehgestelle:Ja
Neigetechnik:Ja ( 9° )
Zug fährt auch in Traktion:Nein
Anzahl der Achsen / davon angetrieben:10 / 4
Achsformel:Bo'+2'2'2'+Bo'

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Technische Daten: APT-P
Zug- / Baureihenbezeichnung:Advanced Passenger Train Prototyp
Class 370
Einsatzland:England
Anzahl der Züge:3 Züge
Zugtyp:Triebwagenzug
Anzahl der Mittelwagen:8 Mittelwagen
Anzahl der Motorwagen:2 Motorwagen
Anzahl der Endwagen:2 Endwagen
Baujahre:1972–1977
Inbetriebnahme:07.12.1981
Spurweite:1435 mm
Stromsystem(e):25 kV 50 Hz
Zugleitsystem(e):passiv an der Strecke
Höchstgeschwindigkeit bei Versuchsfahrten:257 km/h
Technisch zugelassene Höchstgeschwindigkeit:250 km/h
Höchstgeschwindigkeit im Plandienst:200 km/h ( mangels geeigneter Signalsysteme )
Jakobsdrehgestelle:Ja
Neigetechnik:Ja ( 9° )
Zug fährt auch in Traktion:Nein
Anzahl der Achsen / davon angetrieben:32 / 8
Achsformel:2'+2'2'2'2'+2'+Bo'Bo'+Bo'Bo'+2'2'2'2'2'+2'
Federung:Luftfederung
Länge / Breite / Höhe der Mittelwagen:21.000 / --- / --- mm
Länge / Breite / Höhe der Endwagen:21.440 / --- / --- mm
Länge / Breite / Höhe der Motorwagen:20.400 / --- / --- mm
Achslast (maximal):16.8 t
Ausrangiert:13.12.1981

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